Steppenlandschaft in Bewegung. Geomorphologische Kartographie bei Humboldt und Zimmermann

#Humboldt #Zimmermann #Kartographie #Geomorphologie

24. Januar 2019

 

„Die Beschreibung der Erde ist keine stillstehende Wissenschaft!“ Laut Alexander von Humboldt (1769-1859) sollten Reiseberichte, historische Quellen und geologische Hypothesen in die kartographische Darstellung einfließen, um den dynamischen Charakter des Raumes richtig darzustellen.

Ulrich Päßler

Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Es handelt sich um die überarbeitete Fassung eines Beitrages im Tagungsband
Landschaften und Kartographien der Humboldt’schen Wissenschaft,
herausgegeben von Ottmar Ette und Julian Drews.

In einem am 19. Januar 1824 in der Pariser Académie des Sciences verlesenen Bericht über Adrien-Hubert Brués Atlas universel de géographie physique, politique et historique umreißt Alexander von Humboldt die Aufgaben des Kartographen (Humboldt 1824). Ausgangsmaterial seiner Karten müssten stets zwei mehr oder weniger zuverlässige Textsorten sein: zum einen möglichst genaue Ortsbestimmungen und Höhenmessungen, zum anderen beschreibende Werke („ouvrages descriptifs“), also Statistiken, Reiseberichte und Wegbeschreibungen. In beiden Fällen müssten die Dokumente verglichen und kritisch diskutiert werden. Dazu reiche es nicht aus, bereits vorhandene, historische Karten eines erneut zu kartographierenden Raumes zu vergleichen, vielmehr müsse der Kartograph auf die Quellen seiner Vorgänger („aux sources, aux ouvrages mêmes“) zurückgreifen und die Angaben und Messungen mit neuen Daten abgleichen. Wie für den Philologen oder Historiker bildet also auch für den „Humboldt’schen Kartographen“ eine sorgfältige Quellenkritik die Grundlage seiner Forschung. Schließlich sei die Beschreibung der Erde keinesfalls eine stillstehende Wissenschaft („La description du Globe n’est point une science stationnaire“). Präzisere Ortsbestimmungen und neue Quellenfunde ermöglichten eine ständige Erweiterung des kartographischen Wissens.

Ausgehend von diesen Leitgedanken möchte ich im Folgenden dem Austausch und der Anwendung kartographischen Wissens in der geographischen Forschung um 1840 nachgehen. Wie kombinierten Humboldt und zeitgenössische Geographen naturwissenschaftliche Daten sowie Höhen- und Ortsbestimmungen mit historischen Reiseberichten bei der Bildung erdkundlicher Hypothesen? Welche Funktion erfüllten Karten bei der Illustration geographischer Probleme?

Wie man eine Steppe (nicht) kartographiert

Im Sommer 1839 empfing Humboldt in Berlin den 26-jährigen Second Lieutenant Carl Zimmermann. Der Student der Allgemeinen Kriegsschule überbrachte zwei Vorstudien zur kartographischen Darstellung der Gebirgssysteme Zentralasiens, die er unter der Anleitung seines Lehrers Carl Ritter angefertigt hatte. Humboldt sprach dem jungen Kartographen in einem an Ritter gerichteten Brief für die gründliche Verwendung historischer Reiseberichte bei der Anfertigung dieser Zeichnungen seine Anerkennung aus: „Das ist eine grosse Begebenheit einmal graphisch alles benuzt und discutirt zu sehen, was wir seit Jahrhunderten über diese Weltgegend besizen […].“ [1] Die Humboldt präsentierten Skizzen Zimmermanns gingen 1840 in zwei Karten ein, die der junge Kartograph für den Atlas von Vorder-Asien, der Ritters Allgemeinen Erdkunde begleitete, anfertigte (vgl. Zimmermann 1840a; Zimmermann 1840b; Zimmermann 1840c). Neben diesen Karten – ein Übersichtsblatt von Inner-Asien sowie vier Blatt einer Karte Inner-Asien’s – fertigte Zimmermann im selben Jahr ein weiteres Kartenblatt an, das die Steppenlandschaft des Ustjurt-Plateaus zwischen Kaspischem Meer und Aralsee abbildete. Der Titel Entwurf des Kriegstheaters Russlands gegen Chiwa suggeriert fälschlicherweise eine rein militärtopographische Arbeit. Sie bildet stilistisch und thematisch eine Einheit mit der Karte Inner-Asien’s, an die sie westlich, etwa um den 60. Pariser Längengrad (heute bei 62°E), anschließt. Auf beiden Karten vermerkte Zimmermann historische Reiserouten, die Namen von Völkerschaften sowie Angaben zur Tier- und Pflanzengeographie (Abb. 1).

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Abbildung 1: Zimmermann 1840c, Detail
© Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kartenabteilung, Signatur: Kart. D 3896-3,1
Zur ganzen Karte (66 MB): https://visionscarto.neocities.org/2019-Humboldt/1%20Kriegstheater%20ganz.jpg

Zimmermann widmete der Region zwischen Kaspischem Meer und Aralsee aus zwei Gründen eine besondere kartographische Untersuchung. Dargestellt sind die militärisch befestigte südöstliche Expansionsgrenze des Russischen Reiches sowie das Khanat Khiva, welches das Gebiet kontrollierte und den russischen Handel durch Überfälle auf Reisende und Geiselnahmen behinderte. Zwischen Herbst 1839 und Juni 1840 entsandte Russland unter Leitung des Militärgouverneurs von Orenburg Vasilij Alekseevič Perovskij eine Militärexpedition, um den Khan durch einen russischen Vasallen zu ersetzen. Die Karte stellt also dar, auf welchen Wegen das russische Heer Khiva unter Schonung der eigenen Ressourcen erreichen und einnehmen konnte. Somit lässt sich die Karte als Arbeitsprobe eines Offiziersschülers interpretieren, der sich damit für eine weitere Verwendung, etwa in der topographischen Abteilung des Großen Generalstabs, empfehlen wollte.

Ein zweites Motiv für Zimmermanns detaillierte geographische Analyse dieser Region hängt unmittelbar mit Humboldts zeitgleichen Forschungen über den Isthmus zwischen Aralsee und Kaspischem Meer zusammen, die 1843 einen Gutteil des zweiten Bandes der Asie centrale einnehmen sollte. Zimmermanns Karte geht auf ein geographisches Problem ein, das auch Humboldt beschäftigte. Die Ausgangsbeobachtung war die merkwürdige Abgeschnittenheit des Aralsees vom Kaspischen Meere sowie beider von den Weltmeeren und vom Weltverkehr. Daraus erwuchsen für die Geographen zwei Fragen: Welchen geologischen Wandlungen war die Region in der Menschheitsgeschichte unterworfen? Gab es einst eine Verbindung von Aralsee und Kaspischem Meer, möglicherweise durch eine Bifurkation des Amu-Darja, also des antiken Oxus?

In den 1831 erschienenen Fragmens asiatiques war Humboldt erstmals der Geomorphologie der Region nachgegangen (Humboldt 1831, I, 130-131). Im Laufe der 1830er Jahre waren weitere Reiseberichte, geologische Untersuchungen und geographiehistorische Arbeiten erschienen, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Ustjurt-Plateau ermöglichten. Der Geographiegeschichte, also vor allem historischen Reiseberichten und Karten, maß Humboldt für die Erforschung der Physik der Erde eine wesentliche Bedeutung bei. Der in der Anthropogeographie Carl Ritters formulierten Frage, auf welche Weise sich wandelnde geographische Gegebenheiten die Lebensbedingungen der Menschen, Wanderungsbewegungen und Handelsrouten beeinflussten, geht der Ritter-Schüler Carl Zimmermann in einer zusammen mit seiner Karte veröffentlichten Geographische Analyse eines Versuches zur Darstellung des Kriegstheaters Russlands gegen Chiwa nach (Zimmermann 1840d. Vgl. Ritters programmatische Schrift Ritter 1833, 46, 62). Zimmermann diskutiert hier ausführlich die historischen und neueren Reiseberichte, die er zur Anfertigung seiner Karte in Mangel astronomischen Ortsbestimmungen ausgewertet hatte, er vergleicht deren Entfernungs- und Höhenangaben und diskutiert Flora, Fauna und geologische Beschaffenheit der Landschaft. Die im Text beschriebenen und auf der Karte eingetragenen Sanddünen und versiegten Flussläufe repräsentieren die klimatische Vergangenheit und topographische Bewegung des Areals. Hierzu hatte Zimmermann von Humboldt historische Quellen, neuere Berichte und eigene handschriftliche Notizen erhalten. Vor allem durch die Arbeiten Heinrich Julius Klaproths und Carl Ritters inspiriert, ist Zimmermanns Analyse zudem eine Siedlungs- und Handelsgeschichte des westasiatischen Isthmus. Die Berichte über Ruinenstädte in der Steppe, verfallene Kanäle und verlassene Bergwerke deutet er als Hinweise auf einstige Karawanenzüge und die „Zeit eines blühenden Handels“ (Zimmermann 1840d, 3, 32). Dessen Niedergang führt er auf die Öffnung des Seeweges zwischen Europa und Indien, vor allem aber auf die zunehmenden Raubzüge der nomadischen Steppenbewohner zurück. Während die erste Erklärung die menschheitsgeschichtliche Bedeutung der europäischen Entdeckungen am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Frühen Neuzeit thematisiert und so durchaus im Sinne einer Humboldt’schen Geographiegeschichte argumentiert, nutzt Zimmermann die zweite Erklärung lediglich als willkommene Rechtfertigung des europäischen Expansionsstrebens in der Region. So überrascht es nicht, dass Zimmermanns Karte – ebenso wie die Analyse – bereits ein Jahr später in englischer Übersetzung erschien, standen sich doch Russland und Großbritannien im Great Game um diese Weltregion als Konkurrenten gegenüber (Zimmermann 1840e).

Dass sich Zimmermanns Verfallsgeschichte des aralo-kaspischen Beckens im Rahmen des europäischen Asiendiskurses des frühen 19. Jahrhunderts bewegt, wird durch den im Anhang seiner Analyse veröffentlichten Artikel des russischen Finanzministers Georg von Cancrin deutlich. [2] Bereits in dieser erstmals 1829 anonym erschienenen Denkschrift wird die zunehmende Versteppung der Landschaft, das Verlanden des Aralsees und des Kaspischen Meeres, ja die Ausdehnung der Wüsten Zentralasiens insgesamt nicht nur geologischen Ursachen zugeschrieben, sondern mit dem Niedergang der asiatischen Kultur in Zusammenhang gebracht.

Der ortskundige russische Turkologe Vladimir Ivanovič Dal’ – er hatte 1839/40 im wissenschaftlichen Begleittross an der Expedition Perovskijs gegen Khiva teilgenommen – unterzog die Karte Zimmermanns einer eingehenden Kritik. Dal’ wies auf zahllose falsche Benennungen hin, die aus Zimmermanns Unkenntnis lokalen Turk-Sprachen und des Russischen resultierten. Er bemängelte darüber hinaus die irreführenden naturräumlichen Angaben: Ließen sich auf einer Steppenkarte die Verbreitungsgrenzen von Flora und Fauna sowie von Kulturpflanzen wie Melone und Gurke so präzise anzeigen, wie Zimmermanns Karte vorgibt? Dal’ ist skeptisch, dass es überhaupt möglich sei, die Steppenlandschaft auf einer Karte abzubilden, die den Konventionen einer europäischen Geographie folgt. Eine Steppenkarte sei auf die Orientierungspunkte der Nomaden angewiesen – „Flüsschen, Quellen, [...] endlich auch ein paar Bäume, ein aufgeworfener kleiner Grabhügel, eines verfallenes aus ungebranntem Ziegel gemauertes Grabmal“ – welche dem sehr klein gewählten Maßstab nach gar nicht auf die Karte gehörten, die Zimmermann jedoch „mit Frakturschrift, wie etwa eine Residenzstadt auf den europäischen Karten“ angegeben und so „netzförmig in Zusammenhang“ gebracht habe, als handele es sich um „beständige Kommunikationswege“ (Dal’ 1845, 3-4).

Zimmermanns Entwurf des Kriegstheaters gegen Chiwa vereinigt in sich zwei Traditionslinien der thematischen Kartographie: Die erste Linie geht auf die, häufig unter militärischer Leitung durchgeführte, topographische Landesaufnahme zurück, in die Praktiken statistischer Datenerhebung des frühneuzeitlichen Staates und die im Verlauf wissenschaftlicher Entdeckungsreisen entwickelten geowissenschaftliche Fragestellungen und Methoden eingegangen waren. Die zweite Leitlinie der thematischen Kartographie war eng mit der Konzeption einer wissenschaftlichen Geographie Alexander von Humboldts und Carl Ritters verbunden, wie sie in Carl Berghaus’ Physikalischem Atlas einen ersten Höhepunkt erreichte. Zwar benutzte Berghaus die Bezeichnungen ‚Spezial- oder Sonderkarten‘, doch entsprachen diese im Prinzip bereits der Definition des modernen Begriffs ‚thematische Karte‘ im Sinne einer „Darstellung von Raumbeziehungen eines bestimmten Sachinhalts auf einer Grundkarte mit topographischen bzw. geographischen Objekten“. [3] Der Entwurf war als militärtopographische Arbeit und erkundungsgeschichtliche Routenkarte, als ethnographische Karte der Region, Produktenkarte und Karte zur Tier- und Pflanzengeographie jedoch hoffnungslos mit Informationen überladen. Zimmermann ließ sich von seinem Scheitern indes nicht entmutigen. Seine kartographische Beschäftigung mit dem Ustjurt-Plateau sollte wenige Jahre später in eine neue Runde gehen. Dies hing eng mit dem Erscheinen von Humboldts Asie centrale 1843 zusammen.

Die Dynamisierung des Raumes – Humboldts Asie centrale

In der Einleitung zum ersten Band der Asie centrale formulierte Humboldt:

Die Geschichte der Erdkunde vermag uns auch zuweilen, wenn sie die Aufeinanderfolge von Meinungen und die lange Reihe der Veränderungen verzeichnet, welche dieselben im Lauf der Jahrhunderte erfahren haben, manche der jüngsten Umwälzungen zu enthüllen, welche die Erdoberfläche erlitten hat. Sie ist dann mit der Geschichte unseres Planeten verwickelt. [4]

Es ist diese Doppelfunktion der Geographiegeschichte – als gleichsam archivalische Datengrundlage kartographischer Darstellung und als Dokumentation geologischer Prozesse – die Humboldts Hypothesenbildung in diesem und anderen Fällen erst ermöglichte. Hans Baumgärtel hat auf die Rolle der vergleichenden Geographie für Humboldts Entwicklung geologischer Hypothesen hingewiesen. Vergleichende geographisch-geognostische Untersuchungen ermöglichten Humboldt nicht nur die Erkenntnis einer weltweiten Analogie der Gesteine und ihrer Formationen. Sie halfen Humboldt auch dabei, eine ähnlich umfassende Hypothese nach und nach einzuschränken: War er 1792 von der Idee einer globalen Hauptrichtung des Streichens der Schichten ausgegangen, so begrenzte er diese Annahme eines solchen Parallelismus schließlich auf einzelne, jeweils genau zu bestimmende Gebiete. Humboldts vorsichtige Übernahme der Hypothese der Erhebungskrater Leopold von Buchs zeigt schließlich, wie er Daten der historischen Geographie geomorphologisch interpretierte. Buch formulierte die Idee, dass die großen Gebirgssysteme der Erde durch Anhebung und anschließende teilweise, kraterförmige Senkung von Gesteinsmassen aus dem Erdinneren entstanden waren.

Im weiteren Sinne bedeutete diese Annahme eine zeitliche Dynamisierung geologischer Prozesse, da sie von messbaren periodischen Höhenschwankungen größerer Landflächen ausging. [5] Eine Landschaft in Bewegung verändert Flussläufe und Seespiegel und schreibt sich in das historische geographische Gedächtnis ein. Die von Humboldt, aber auch von anderen Naturforschern seiner Zeit zusammengetragenen menschheitsgeschichtlichen Zeugnisse über die Geographie des aralo-kaspischen Kessels ermöglichten eine Rekonstruktion der Geomorphologie der Region. Humboldt nutzt den gesamten zweiten Band der Asie centrale dazu, die Frage nach der einstigen Verbindung von Aralsee und Kaspischem Meer zu lösen. Ausgehend von Buchs Hypothese der Erhebungskrater („neue geologische Ansichten über die schwankenden Bewegungen einiger Theile der Erdoberfläche“ (Humboldt 1844, I, 445)) unternimmt Humboldt eine historische Analyse der Berichte über die beiden Binnenmeere seit der Antike und kommt zu folgenden Schlüssen:

1. „Vor der Zeit, welche wir die historische nennen, mag der Aral-See in einer der letzten großen Revolutionen der Erdoberfläche sehr nahe gelegenen Epoche ganz in dem Becken des casp. Meeres einbegriffen gewesen sein.“
2. „Der Aral bildete zur Zeit des Hekataeus und Herodot […] höchst wahrscheinlich nur eine Seiten-(appendiculäre) Anschwellung des Oxus.“
3. Das Karabogas-Haff habe sich durch zunehmende Trockenheit oder durch „Aufschwemmungen und plutonische Hebungen, allmälig in engere Grenzen zurückgezogen, und dadurch hat sich die Gabeltheilung des Oxus entwickelt“ […]. (Humboldt 1844, I, 529, 530)

Den Teil dieses Flusslaufes, der zum Kaspischen Meer führte, hätten Reisende des 16. Jahrhunderts bereits ausgetrocknet gefunden. Was also zunächst nichts weiter als eine angehängte Erweiterung des Kaspischen Meeres war, wurde nun zum Endpunkt des Flusses. Humboldts Geographie dient hier also dem Verständnis geologischer Prozesse, soweit sie menschheitsgeschichtlich fassbar sind. Leopold von Buchs Theorie der Erhebungskrater folgend und sie auf die historischen Quellen anwendend, konstatiert Humboldt ein periodisches Steigen und Fallen der aralo-kaspischen Senke. Diesen Befund bindet Humboldt in den großen Gesamtentwurf über die zentralasiatischen Bergketten und Vulkane ein. Die „Salsen (Schlammauswürfe), Naphthaquellen und Steinsalzlager“, die Symptome der „Schwankungen“ des Terrains seien, träten da auf, wo die „Ufer des casp. Meeres von der grossen vulkanischen Spalte des Thian-schan durchschnitten werden“ (Humboldt 1844, I, 522). Auf der Zentralasienkarte stellt Humboldt diese Raumbeziehung dar. Handelt es sich ansonsten um eine bewusst schematische, graphisch auf das Wesentliche reduzierte Topographie der asiatischen Bergketten und Vulkane im kleinen Maßstab, so findet sich auf ihm auch das einstige Bett des Amu-Darja, bzw. Oxus. (Abb. 2).

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Abbildung 2: Humboldt 1843b, Detail
Gallica, Europeana Collection, http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb40677841f

Vom Kriegstheater zum Welttheater

Humboldt geht in der Asie centrale mehrfach auf Zimmermanns Vorarbeiten ein. Er lobt Zimmermann, den er als „sehr unterrichteten Geographen“ bezeichnet, „der überall auf die ersten Quellen zurückgegangen ist“ (Humboldt, 1844, I, 490), vor allem für die gründliche Sammlung historischer Zeugnisse über den Amu-Darja. Als bedeutenden Fund wertete Humboldt insbesondere die Karte des Kaspischen Meeres aus Abraham Ortelius’ Theatrum Orbis Terrarum. Diese Karte hatte Zimmermann 1841 in seiner Geographischen Analyse der Karte von Inner-Asien eher beiläufig erwähnt und als Beleg für einen noch im 16. Jahrhundert weit nach Osten reichenden Wasserweg als Überrest einer einstmaligen Bifurkation des Amu-Darja gewertet (Ortelius 1570. Zimmermann 1841, 111). Die Ortelius-Karte ging auf einen Entwurf des englischen Reisenden Anthony Jenkinson zurück und war vor allem durch die auffällig weite östliche Ausdehnung des Karabogas-Haffs bemerkenswert (Abb. 3).

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Abbildung 3: Ortelius 1570, Detail
Wikimedia Commons

Zimmermann fühlte sich durch die von Humboldt in der Asie centrale vorgestellten Ergebnisse zur erneuten Forschungsarbeit über das Ustjurt-Plateau inspiriert. Wiederum verfasste er ein Kartenwerk, das er mit einer verschriftlichten geographischen Analyse kombinierte. Im Gegensatz zur ersten Arbeit, die am Versuch eines kartographischen Totalbildes gescheitert war, konzentrierte sich Zimmermann nun allerdings auf die Frage nach dem einstigen, gegenwärtigen und zukünftigen Lauf des Amu-Darja. Zimmermanns monographische Darstellung, ein Sendschreiben an Alexander von Humboldt von 184 Seiten Umfang, greift dabei vor allem die in der Asie centrale diskutierte naturräumliche Dynamik auf und rekonstruiert eine Chronologie, in der menschheitsgeschichtliche und geologische Entwicklungen ineinandergreifen. Die für den Handel zwischen Asien und Europa einst so wichtige Wasserstraße sei in der Epoche der Entdeckung Amerikas und der Öffnung des Seeweges nach Indien versiegt. Zimmermann schildert die ständige Wandlung des Kaspischen Meeres. Es zeige

fort und fort Veränderungen der Ufer, des flachen Grundes, der Dünen, Nehrungen und Inseln, Halbinseln, Haffe. Dieses schmale, flache, salzige Meer, umgeben von Erloschenen, [sic] Gas- und Schlamm-Vulkanen, Fumarolen-, Schwefel- und Naphtalagen [sic], von den schneehohen Bergen und aus den Steppen durch furchtbare Stürme heimgesucht, mit zu schroffen unebenen Klippen- oder mit zu losen Sand-Ufern, […] alles trägt dazu bei, ein fortwährendes Schwanken des sich verschlechternden Zustandes dieses Bassins zu bewirken. (Zimmermann 1845a, 45, 184)

Doch während der Tenor in der Geographischen Analyse des Kriegstheaters noch auf natur- und menschheitsgeschichtlichem Niedergang gelegen hatte, versuchte Zimmermann nun der „geologische[n] Weiterbildung unseres Planeten in unserer menschlichen Epoche“ auf die Spur zu kommen. Aus aktuellen Reiseberichten und Karten meint Zimmermann ableiten zu können, dass der Amu-Darja sich wieder einen Weg zum Kaspischen Meer bahne, eine mögliche geologische Entwicklung, die er in seiner Denkschrift allerdings erneut argumentativ mit der russischen Expansionspolitik entlang der südöstlichen „wandernden Grenzen“ des Reiches verknüpft (Zimmermann 1845a, Sperrung im Original, 45, 10, 85).

Zimmermann gibt seiner Analyse vier Karten der Region bei. Zwei Karten gehen auf europäische Reisende der Jahre 1819 bis 1842 zurück, die Berichte über den dynamischen Lauf des Amu-Darja im Mündungsgebiet und sein neuerliches Streben in westliche Richtung dokumentieren. Die beiden anderen Karten greifen den Bericht über die östliche Ausdehnung des Karabogas-Haffs auf, das sich im 16. Jahrhundert als Golf des Kaspischen Meeres fast bis zum Aralsee erstreckt und so eine frühere Verbindung der beiden Binnenmeere durch die Bifurkation des Amu-Darja wahrscheinlich gemacht habe (Abb. 4) (Zimmermann 1845c, Zimmermann 1845d, Zimmermann 1845b). Zimmermann stellt seinem Übersichtsblatt des Terrains die Darstellung dieses Golfes auf der historischen Ortelius-Karte gegenüber. Deren entscheidende Aussage, die einstige Ausdehnung des Kaspischen Meeres nach Osten überträgt er nochmals auf seine eigene Karte. Durch das Mittel der Überblendung gelingt es Zimmermann, die Geomorphologie des Isthmus auf einer Karte abzubilden.

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Abbildung 4: Zimmermann 1845b, Detail
© Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Kartenabteilung, Signatur: Kart. D 2430
Zur ganzen Karte (14 MB): https://visionscarto.neocities.org/2019-Humboldt/4%20Karabogashaff%20ganz.jpg

Die relative Isolation der Landschaft zwischen Kaspischem Meer und Aralsee von den Weltmeeren und vom Weltverkehr war die Ausgangsbeobachtung der Untersuchungen Humboldts und Zimmermanns. Zimmermanns erster kartographischer Versuch über dieses Problem scheiterte an einer Überfülle von Informationen. Erst Humboldts Kombination von geologischer Hypothese und geographiegeschichtlichen Daten versetzte den Raum gleichsam kartographisch in Bewegung. Es ließe sich sagen, dass nun an die Stelle der Raumgeschichte eine Bewegungsgeschichte [6] tritt. In diesem Sinne sind Zimmermanns Uebersichtsblatt zur Darstellung des schiffbaren und unteren Lauf des Oxus und Humboldts Chaînes de montagnes „Bewegungskarten“, die Landschaften als Schauplätze geohistorischer und menschheitsgeschichtlicher Dynamik abbilden.

↬ Ulrich PÄßLER

Bibliographie
  • Baumgärtel, Hans (1969): „Alexander von Humboldt: Remarks on the Meaning of Hypothesis in His Geological Researches“, in: Cecil J. Schneer (Hg.), Toward a History of Geology (Proceedings of the New Hampshire Inter-Disciplinary Conference on the History of Geology, September 7-12, 1967), Cambridge, MA: MIT Press, 19-35.
  • Dal’, Vladimir Ivanovič (1845): „Bemerkungen über L. Zimmermann’s Entwurf des Kriegstheaters Russlands gegen Chiwa, und die beigefügte Geographische Analyse etc.“, in: Karl Ernst von Baer/Gregor von Helmersen (Hg.), Beiträge zur Kenntniss des Russischen Reiches und der angränzenden Länder Asiens 7, 3-26.
  • Engelmann, Gerhard (1977): Heinrich Berghaus. Der Kartograph von Potsdam (Acta Historica Leopoldina; 10), Halle/Saale: Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina.
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  • Humboldt, Alexander von (1824): „Rapport fait à l’Académie des Sciences de Paris (séance du 19 janvier 1824), par M. le baron Alexandre de Humboldt, sur l’Atlas géographique de M. Brué“, in : Journal des voyages, découvertes et navigations modernes; ou archives géographiques du XIXe siècle 21, 207-215.
  • Humboldt, Alexander von (1831): Fragmens de géologie et climatologie asiatiques, 2 Bde., Paris: Gide; Pihan Delaforest; Delaunay.
  • Humboldt, Alexander von (1843a): Asie centrale. Recherches sur les chaînes de montagnes et la climatologie comparée, 3 Bde., Paris: Gide.
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  • Humboldt, Alexander von (1844): Central-Asien. Untersuchungen über die Gebirgsketten und die vergleichende Klimatologie. Aus dem Französischen übersetzt und durch Zusätze vermehrt herausgegeben von Dr. Wilhelm Mahlmann, 2 Bde., Berlin: Carl J. Klemann.
  • Humboldt, Alexander von (2010): Alexander von Humboldt – Carl Ritter. Briefwechsel, hgg. von Ulrich Päßler unter Mitarbeit von Eberhard Knobloch (Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung; 32), Berlin: Akademie Verlag.
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  • Osterhammel, Jürgen (2010): Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert (Beck’sche Reihe), München: C. H. Beck.
  • Pieper, Herbert (2006): Alexander von Humboldt und die Geognosie der Vulkane. Mit dem Vortrag Alexander von Humboldts, gehalten am 24. Januar 1823 an der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Berliner Manuskripte zur Alexander-von-Humboldt-Forschung; 27), Berlin: Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle.
  • Ritter, Carl (1833): „Über das historische Element in der geographischen Wissenschaft. Gelesen in der Akademie der Wissenschaften am 10. Januar 1833“, in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, aus dem Jahre 1833, Berlin: Königliche Akademie der Wissenschaften, 41-67.
  • Scharfe, Wolfgang (1990): „Entwicklung der Thematischen Kartographie bis zum frühen 19. Jahrhundert“, in: Ders. (Hg.), Administrativ-Statistischer Atlas vom Preußischen Staate (Begleitband), Berlin: Kiepert, 2-5.
  • Zimmermann, Carl (1840a): Übersichtsblatt von Inner-Asien. Enthält die Darstellung von sechs hypothetischen Profilen, ferner des über 800 bis 1000 Toisen erhobenen Landes, Andeutungen für die vier verschiedenen Richtungen der Hauptgebirgs-Systeme, Verbreitung der Wüsten, ihr Eindringen in die Gebirgsländer, Beschränkung des Frucht- und Culturlandes am Rande des Gebirgs und in den Hauptthälern, Berlin: Delius.
  • Zimmermann, Carl (1840b): Karte Inner-Asien’s zu C. Ritter’s Erdkunde Buch 3: Übergang von Ost- nach West-Asien, bearbeitet von Carl Zimmermann, Second-Lieutenant im 21ten Infanterie Regiment, herausgegeben durch C. Ritter und F. A. O’Etzel, Berlin: Reimer.
  • Zimmermann, Carl (1840c): Entwurf des Kriegstheaters Russlands gegen Chiwa, Berlin: Reimer.
  • Zimmermann, Carl (1840d): Geographische Analyse eines Versuches zur Darstellung des Kriegstheaters Russlands gegen Chiwa, Berlin: Reimer.
  • Zimmermann, Carl (1840e): Memoir on the Countries about the Caspian and Aral Seas, Illustrative of the Late Russian Expedition Against Khívah, translated from the German of Lieutenant Carl Zimmermann, of the Prussian Service, by Captain Morier, R. N., with a Map, by John Arrowsmith, London: James Madden and Co.
  • Zimmermann, Carl (1841): Geographische Analyse der Karte von Inner-Asien. Erstes Heft zum Atlas von Vorder-Asien zur Allgemeinen Erdkunde von Carl Ritter, erste Lieferung, Berlin: Reimer.
  • Zimmermann, Carl (1845a): Denkschrift über den untern Lauf des Oxus zum Karabugas-Haff des Caspischen Meeres und über die Strombahn des Ochus, oder Tedshen der Neueren, zur Balkan-Bay; nebst einem Anhang merkwürdiger Nachrichten über die turanischen Länder, als Nachtrag der geographischen Analyse eines Versuchs zur Darstellung des Aralo-Caspischen Gesenkes. Ein Sendschreiben an Herrn Alexander von Humboldt, Berlin: Reimer.
  • Zimmermann, Carl (1845b): Uebersichtsblatt zur Darstellung des schiffbaren und unteren Lauf des Oxus gegen das Kara-Boghas-Haff, des Caspischen Meeres und des Ochus, den Tedshen der Neuern, mit Rücksicht auf den plastischen Bau des turanischen Wüsten Gesenkes, Berlin: Reimer.
  • Zimmermann, Carl (1845c): Th. Basiner[,] Skizze des Amu-Delta nach den Aufnahmen russischer Gesandtschaften im Jahre 1840 bis 1842 (Nebenkarte auf Zimmermann 1845b).
  • Zimmermann, Carl (1845d): Charte vom Chanate Chiwa und einem Theile von Turkomanien. Berlin: Reimer.

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