SoLaVie - Gemüseanbau als Sozialisierungsexperiment

#Deutschland #Landwirtschaft #Amap #Zivilgesellschaft #Agrarwende #Sozialisierung #Postkapitalismus #Utopie

20. September 2018

 

Das Engagement der Zivilgesellschaft in kollektiven Initiativen ist in Deutschland sehr dynamisch und das rege Vereinsleben erfolgt oft auf partizipatorischem Weg. Dieses Phänomen basiert auf einer langen Tradition; die Mitgliedschaft in einem oder mehreren Vereinen trägt in erheblichem Maße zur Sozialisation der Person bei. Aber das Engagement für ein sozial-solidarisches Projekt entspricht auch dem Willen zu einer Sozialisierung - einer Vergesellschaftung der Gemeingüter.

Nepthys Zwer

Germanistin, Kulturhistorikerin,
Autorin von L’ingénierie sociale d’Otto Neurath, PURH, 2018.

Das Engagement der Bürger

Mehr als die Hälfte der über 15-jährigen Deutschen sind Mitglied eines der 600.000 Vereine des Landes [1]. Das ehrenamtliche Engagement der Bürger (72% dieser Vereinigungen haben keine Angestellten), das vor einigen Jahren noch als Auslaufmodell galt, erlebt eine erstaunliche Wiedergeburt. Während traditionelle Sportverbände dem Wettkampf mit Clubs und Fitnesszentren erliegen und zunehmend die Rechtsform des privatrechtlichen gewinnorientierten Geschäfts annehmen, erfreuen sich Vereine, die sich für internationale Solidarität, Umwelt- oder Verbraucherschutz einsetzen, des Zulaufs immer mehr junger Menschen und StadtbewohnerInnen. Dieses Engagement nimmt zunehmend politische Züge an.

Die Vereine entlasten im Sozialbereich sogar den Staat. 14% der deutschen Vereine bieten nämlich Hilfe für Flüchtlinge an. Es liegt auf der Hand, dass die Politik einer „Kultur des Willkommens und der Anerkennung“, die Deutschland im Zusammenhang mit der Migration im Jahr 2015 an den Tag legte, größtenteils von der „Integrationsarbeit“ dieser Organisationen abhängt.

Vom Turnen zur Anti-Atomkraft-Bewegung

JPEG - 430.5 kiB
Postkarten und Propagandabilder für Friedrich Ludwig Jahns Turnbewegung.

„Frisch, fromm, fröhlich, frei“ versprachen die vier F’s im Logo der Vereine von „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) demjenigen (und nicht derjenigen), der sich der männlichen und patriotischen Freude an kollektiver Körperbetätigung hingab. Ab 1810 breiten sich die Turnvereine schlagartig aus und gleichzeitig befällt das Vereinsgründungsfieber die deutschen Länder.

Die gemeinsamen Interessen (Literatur, Musik, Bildung, Angeln, Wandern usw.), das Streben nach einem sozialen oder politischen Ideal, aber auch die Selbsthilfe (Gewerkschaften, Sparkassen, Kleingärten usw.) finden in dieser Organisationsform den idealen Rahmen. Die Repression politischer Vereinigungen (insbesondere durch die Sozialistengesetze von 1878-1890) trugen wesentlich zur Entwicklung des Phänomens bei, denn die patriotischen, sportlichen oder konfessionellen Vereine dienten ihnen öfters als Deckung. Der Verein fördert die Solidarität, hilft soziale Barrieren zu überwinden und schafft vor allem eine starke soziale Bindung und wahren Gemeinschaftsgeist.

JPEG - 906.6 kiB
Großes Turnertreffen des Deutschen Turnerbundes München, Juli 1923.
© Nepthys Zwer. Archiv meines Großvaters Johann Zwer (1896-1976), Leiter der « Germania »/Turnverein Hostenbach/Saarland (vor, während und nach der Nazizeit)

Durch die „Gleichschaltung“ aller Vereine im Jahre 1933 werden sich die Nazis dieses hervorragende Instrument der Sozialisation zunutze machen - Sozialisation ist ein Begriff der Soziologie und bezeichnet den psychischen Prozess, durch welchen ein Individuum die Normen seiner Gruppe verinnerlicht und ein sozialkonformes Verhalten annimmt…

JPEG - 33.7 kiB
Symbol der Anti-Atomkraft-Bewegung, 1975.

In den 1970er Jahren erscheinen mit den neuen sozialen Bewegungen militante AktivistInnen- und Bürgerinitiativen, davon deren bekannteste die Anti-Atom-Bewegung ist. Das soziale Engagement im Verein erlebt in neuerer Zeit eine Änderung seiner Form. Die großen Nichtregierungsorganisationen (Greenpeace, Attac, usw.) bedienen sich der sozialen Netzwerke und Medien um ihre Informations- und Werbekampagnen zu inszenieren. Sie sind die neuen Schlachtfelder, auf welchen die großen übernationalen und globalisierungskritischen Anliegen ausgefochten werden.

Dies setzt eine professionnelle Struktur voraus und die Mitstreiter werden eher auf der Straße als in der Management- und Entscheidungsfindungsebene eingesetzt [2]. Diese Beschränkung der Eigenverantwortung entspricht auch der Zurückhaltung der Mitglieder, sich in höheren Positionen zu engagieren, da sie, unter anderem wegen ihrer geographischen Mobilität, nur noch ungern langfristige Verpflichtungen eingehen.

JPEG - 555.7 kiB
Anti-Atomkraft-Demonstration Bonn (Hofgarten), 14. Oktober 1979.
photo © Hans Weingartz (Creative Commons Lizenz).

Die lokale Alternative

Neben dieser Professionalisierung des Engagements der BürgerInnen zeichnet sich jedoch ein weiterer Trend ab. Die Zivilgesellschaft organisiert sich auch auf rein lokaler Ebene, was sich in allen gemeinwirtschaftlichen Unternehmen widerspiegelt, die sich weltweit für die soziale und ökologische Wende einsetzen [3].

JPEG - 847 kiB
Initiativen der solidarischen Landwirtschaft in Europa.
Philippe Rekacewicz, 2018.

In Reaktion auf den Rückzug oder das defizitäre Engagement des Staates angesichts der neuen wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen werden Vereine auf Gemeinde- oder Regionalebene tätig. Ihre Mitglieder entscheiden sich für eine persönliche Verhaltensänderung, nicht weil ihnen diese suggeriert wird, sondern aus tiefer politischer Überzeugung.

Das Beispiel der SoLaVie e.V. Ortenau (Baden-Württemberg), einem Verein für Gemüseanbau, zeugt vom neuen Geist, der diese Initiativen antreibt. Ähnlich wie die französischen Amap (Vereinigungen für die Erhaltung einer bäuerlichen Landwirtschaft) [4] basieren die deutschen Solawis (Solidarische Landwirtschaft) [5] auf dem Vertrag zwischen einem landwirtschaftlichen Betrieb und VerbraucherInnen für die wöchentliche Lieferung von Bio-Produkten. Hier treffen die Unterstützung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und gesündere Ernährung mit Bioprodukten aufeinander.

JPEG - 1.9 MiB
Anzahl von Amap pro 100.000 Einwohner - Stand Juni 2017.
Philippe Rekacewicz.

Eine verortete Utopie

Nach dem Motto „Solidarisch landwirtschaften und leben“ legt unsere SoLaVie – ich bin selbst aktives Mitglied im Verein – mindestens drei der Merkmale an den Tag, die diesen Vereinstyp charakterisieren:

JPEG - 636.5 kiB

➤ Da die SoLaVie untypischerweise nicht mit einem Bauernhof kooperiert, sondern mit Hilfe von drei Mitarbeitern die eigenen, gepachteten Felder bewirtschaftet, übernimmt der Verein die gesamte Verwaltung seiner Tätigkeit. Entscheidungen werden kollegial nach eingehender Beratung getroffen, was dem Begriff der horizontalen Demokratie in seiner vollen Bedeutung entspricht. Selbstmanagement und Partizipation sind die zwei Eckpfeiler unserer Organisation;

➤ Den Gedanken einer politischen Subversion von unten teilen sämtliche Mitglieder: indem wir die Erzeugung unserer Nahrung den Mechanismen der Marktwirtschaft entziehen, leiten wir eine Kaskade von Reaktionen ein, die sowohl die soziale Gerechtigkeit (gerechte Entlohnung der Angestellten, Beitrag der Mitglieder, der entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit festgelegt wird) als auch die Ökologie (nachhaltige Landwirtschaft, keine Verpackung, Erhaltung alter Sorten usw.) fördern;

➤ Der persönliche Einsatz der Mitglieder, vor allem bei der Feldarbeit, erzeugt Geselligkeit, das Gefühl, sich nicht in eine exklusive Gemeinschaft zurückzuziehen, sondern sich mit anderen zu verbinden und ein Zusammen-Sein zu bilden. In der Tat sind Unkraut jäten, Tomatenpflanzen anbinden, Bohnen ernten, Kartoffeln entkeimen bereichernde Aufgaben, wenn sie im Team erfolgen…

JPEG - 731.3 kiB
Solavistas beim Folientunnelbau, 2017.
Foto © Hans-Joachim Baublies.

SoLaVie ist eine konkrete, an einen Ort gebundene Utopie. Sie beansprucht aber nicht eine globale Lebenserfahrung zu sein. Im Geiste alternativer Erfahrungen der Graswurzelbewegung der 1970er Jahre verfolgt sie den Weg der kleinen, gar der winzigen Schritte, des unmittelbaren und lokalen Handelns und möchte politisch auch nicht Farbe bekennen. Sie gibt sich mit dem Rahmen eines Vereins zufrieden, weil so die Vielfalt der Motivationen und das verschieden starke Engagement der Mitglieder berücksichtigt werden können.

SoLaVie im Alltag

Der Verein SoLaVie, der im März 2016 gegründet wurde, betreibt auf 2,6 Hektar Ackerland biologischen Gemüseanbau.

Mit seinen drei Mitarbeitern - unterstützt von den vielen Mitgliedern, die auf dem Acker und im Vertrieb tätig sind - versorgt sie wöchentlich 110 Haushalte mit hochwertigem Gemüse. Die Höhe der finanziellen Beteiligung der Mitglieder wird jährlich entsprechend der jeweiligen Kapazitäten festgelegt. Der Verein legt Wert auf die angemessene Entlohnung seiner Mitarbeiter.

Diese Initiative basiert in ihrer heutigen Form auf einem eher politischen Postulat: Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen; die Gruppe kennt keine Hierarchie; es ist ein „antikapitalistisches“ System, das nicht auf den Profit oder seine Akkumulation abzielt. Sie umgeht die Gesetze des Marktes...

Eine Sozialisierung

Es gibt natürlich nie zu viel Demokratie (egal ob von der Straße oder, wie hier, auf dem Feld) und wenn sie auf der untersten Ebene des sozialen „Körpers“ angesiedelt ist, entzieht sie sich der institutionellen Herrschaft unserer repräsentativen Demokratien. Der Ausdruck „Assoziation“ (im Sinne Marx’) findet hier seine Verwirklichung im Zusammenschluß von Individuen, die sich selbst verwalten und „das höchste Maß an Freiheit und Ordnung“ (Pierre-Joseph Proudhon) herstellen – eine Ordnung, die immer revidierbar bleibt und überarbeitet wird, keine willkürliche oder feste Ordnung, die von oben auferlegt wird.

JPEG - 56.7 kiB

Es stellt sich natürlich die Frage, wie sich diese isolierten Experimente tatsächlich auf die gesamte Gesellschaft auswirken, ob das Modell auch in größerem Maßstab zu verwirklichen ist. Die unvermeidliche Institutionalisierung dieser Vereine auf Grund ihrer zunehmenden Organisation (2010 wurde das Netzwerk Miramap in Frankreich gegründet, 2011 das Netzwerk Solawi in Deutschland) läßt den Verlauf ihrer Entwicklung offnen: werden sie rhizomatisch wachsen oder einer sklerosierenden Gleichförmigkeit zum Opfer fallen? Die Sozial- und Solidarwirtschaft ist um so gefährdeter je mehr sie in die Marktwirtschaft eingebettet ist (siehe die zunehmende Kommerzialisierung des Bio-Sektors) und ihre Dynamik kann sehr leicht von Seiten der Regierungen kanalisiert werden (siehe das Programm „Big Society“ der britischen Konservativen von 2010). Aber was bleibt von einer Sozial- und Solidarwirtschaft, die man auf die Dimension eines „sozialen Unternehmertums“ reduziert (nach dem Vorbild des angelsächsischen „Social Business“ [6])?

Dies ist ein guter Grund, die treibenden Kräfte hinter dieser neuen sozialen Praxis der Selbstverwaltung bei der Produktion von Gütern und Dienstleistungen und bei Gemeingütern zu hinterfragen [7]. Diese Art des sozialen Managements entspricht eindeutig dem Begriff der Sozialisierung: Es ist der Prozess der Wiederaneignung, der Vergesellschaftung der gemeinsamen Sache. Er zielt auf die Demokratisierung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens und bietet eine Alternative zur kapitalistischen Wirtschaft. Ich werde in einem nächsten Beitrag dieses politische Konzept aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vorstellen [8]. Es ist in Europa schon längst in Vergessenheit geraten, kommt aber heute hier und da immer häufiger in den Texten von alternativen ökonomischen Denkern vor [Z.B. die Sozialisierung des Einkommens und des Banksystems bei Benoît Borrits, „ De l’entreprise vers le commun.]].

Inwieweit werden diese winzigen Initiativen zusammenfinden und unsere fragmentierte, atomisierte Gesellschaft wieder vernetzen? Den sozialistischen Utopismus analysierend, hat Martin Buber genau diese „soziale Spontaneität“ der Zivilgesellschaft als Motor im Kampf gegen Staatsherrschaft und Kapitalismus ausgemacht. [9] Sind diese neuen diskreten, noch namenlosen sozialen Projekte nicht dabei den Postkapitalismus zu erfinden?

PNG - 839.7 kiB

Laura : Ich bin Solavistin, weil das Projekt eine Inspiration für mein Leben ist. In einer Gemeinschaft Gutes für sich selbst und die Umwelt zu tun, erfüllt mich mit größter Freude!“

Alle Fassungen dieses Artikels: [Deutsch] [français]